Was verbindet nahezu alle Betrachtungen über die Liebe? Und in was sind sie unterschiedlich?
Lassen Sie mich einen Ausflug mit Ihnen machen – zu Alice, diesem hintergründigen Kinderbuch des Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson. Es ist die Begegnungen mit Humpty Dumpty, die von Wissenschaftskritikern oft zitiert wird:
„Wenn ich ein Wort verwende“, erwiderte Humpty Dumpty …, „dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.“ „Die Frage ist doch“, sagte Alice, „ob du den Worten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst“. „Die Frage ist“, sagte Humpty Dumpty, „wer die Macht hat – und das ist alles.
Wissenschaftler tun genau dies: Sie geben einem an sich bekannten Wort, in diesem Fall Liebe, eine Bedeutung nach ihrem Geschmack und erwarten, dass ihnen alle anderen folgen. Alices berühmt gewordener Einwand wird bewusst überhört – er könnte ja zu Zweifeln führen. Geblieben ist Humpty Dumptys arrogante Feststellung: „Wir haben die Macht – wir können alles so nennen, wie wir wollen.“
Trotz dieses Einwands können wir gewisse Gemeinsamkeiten an den Auffassungen über die Liebe erkennen, wenn wir von Soziologen, Moralaposteln und Religionsfanatikern einmal absehen:
1. Liebe ist eine verführerische Urkraft, und ihre Wurzel ist die Sexualität.
2. Im weiteren Sinne ist Liebe eine Symbiose aus unterschiedlichen Gefühlen, die alle auf Verschmelzung zweier Menschen ausgerichtet sind.
3. Diese Liebeskultur kann beobachtet und relativ grob beschrieben werden – die Liebe kann aber nicht auf eine Sichtweise reduziert werden.
Tatsächlich liegen all diese Betrachtungen mit unterschiedlichen Schwergewichten auf den Zweierbezeihungen, die auch geschlechtlicher Natur sind. Die Liebe als übergeordnete Kraft interessiert dabei kaum. Wir müssen aber damit leben, dass auch ganz andere Formen der gegenseitigen oder auch einseitigen Zuneigungen als „Liebe“ bezeichnet werden. Ferner müssen wir uns vergegenwärtigen, dass ständig versucht wird, den „edeleren“ Teil der Liebe zu idealisieren und zu isolieren. So entstehen Gedanken über die „reine Liebe“ oder die „wahre Liebe“ zum anderen Geschlecht, die allesamt jeder Grundlage entbehren. Wer dies dennoch tut, entfernt sich mit jedem Schritt, den er in Richtung „Reinheit“ oder „reiner Wahrheit“ tut ein wenig von der gelebten Realität. Ähnliche Phänomene erleben wir in der Forschung: Je mehr ein Wissenschaftler über ein Hormon oder einen Botenstoff weiß, umso weniger kann ermessenen, wie er sich auf die alltägliche Liebe auswirkt. Er kann bestenfalls sagen, wozu dieser Stoff den Anstoß gibt.
Kommen wir zurück zu Humpty Dumpty und der jungen Alice. Wenn wir Alices Einwand ernst nehmen (und das sollten wir), dann ergibt sich darauf eine etwas eigenartige, aber durchaus logische Schlussfolgerung.
1. Wir selbst müssen dem Wort „Liebe“ eine Bedeutung geben – niemand anders kann es für uns tun.
2. „Liebe“ entsteht einerseits als ein Gefühl in einem Menschen, darüber hinaus aber auch als verbindendes Gefühl zweier Menschen. Wir können als Paar versuchen, auch das „Wir“ unserer Liebe zu definieren.
3. Wir können, wenn wir mögen, über unsere Liebe sprechen oder schreiben. Je mehr verlässliche Quellen bestehen, umso sicherer entsteht (nach dem Modell von Paul Watzlawick) daraus die Wirklichkeit der Liebe, zumindest für unsere Zeit.
Man kann die mit anderen Worten sagen: „Hören sie auf die Worte, nicht auf die Parolen.“ Niemand darf behaupten: „Liebe ist dies oder jenes“. Es ist eine unglaubliche, geschmacklose und menschenfeindliche Anmaßung, dies zu tun. Leider beteiligen sich viele Menschen in Forschung, Lehre Schriftstellerei und Journalismus daran, die sich dessen schämen sollten. Es ist ein diktatorischer Übergriff auf die Selbstbestimmung und Selbstdefinition der der Liebenden.
Auf der anderen Seite darf jeder sagen: „Liebe ist für mich (für uns beide …) dies oder jenes.“ Es ist gut zu wissen, was für andere Liebe ist. Denn nur daran lernen wir.